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„Ziemlich einzigartiges Phänomen“

Ostern in Norwegen: Warum wurden blutig-schaurige Krimis zur beliebten Tradition?

Das norwegische Ostern steckt voller Gegensätze. Denn bei allem Familiensinn, der über die Festtage genauso wie andernorts zelebriert wird, gibt es da eine Sache, die speziell ist: die norwegische Lust am kaltblütigen oder wahlweise blutrünstigen Mord.

Ostern in Norwegen Preikestolen
Der Blick vom Preikestolen oder doch in den Abgrund der menschlichen Seele? (Foto: Daniel Stiel)
„Es ist erwiesen, dass das Genre des Osterkrimis ein ziemlich einzigartiges Phänomen in Norwegen ist“, sagt Kunsthistoriker Geir Thomas Risåsen vom Norwegischen Volksmuseum in Oslo, zu dessen Spezialgebiet die landesweiten Feiertagstraditionen gehören.

Um zu verstehen, warum der Schuss aus der TV-Pistole in Norwegen derart angesagt ist, muss man tatsächlich bis in die 1920er Jahre zurückgehen – also tief in die prä-televisionäre Zeit, in der noch das Buch für österliche Schauermomente zuständig war.

Risåsen und seinen Kollegen ist es tatsächlich gelungen, den Kriminalroman „Bergenstoget plundret inat!“ als den Beginn der norwegischen Osterkrimi-Tradition zu identifizieren. Das Buch aus dem Jahr 1923 wurde nämlich in für damalige Verhältnisse schockierender Art und Weise vermarktet.

Und zwar mithilfe einer Anzeige am 24. März 1923 in der Zeitung Aftenposten, die wegen ihrer Überschrift „Der Zug aus Bergen wurde letzte Nacht ausgeraubt“ (so der Buchtitel auf Deutsch) vielfach für eine Schlagzeile gehalten wurde – und nicht für Reklame.

„Viele verschluckten sich an diesem Tag an ihrem Kaffee“, sagt Risåsen, für den es nach diesem Startschuss aber auch noch andere Zutaten brauchte, um den Krimi als norwegischen Osterbrauch fest zu etablieren.

„Zunächst einmal war und ist es die Zeit, in der man sich mit einem Buch entspannen kann“, erklärt der Wissenschaftler. Man habe schlichtweg die Zeit dazu. Hinzu komme aber, dass der Krimi als Konzept in Norwegen von einer Vielzahl von Akteuren angenommen und stetig erweitert worden sei.

1976 strahlte der norwegische Rundfunk NRK sein erstes Oster-Krimidrama aus

Oster Norwegen
„Viele verschluckten sich an diesem Tag an ihrem Kaffee“ beim Anblick dieser Titelseite. (Foto: Norwegische Nationalbibliothek)
Was ursprünglich mit jenem Roman der Autoren Nordahl Grieg und Nils Lie begann, hat sich über die Jahre durch verschiedene Medien verbreitet, darunter das Fernsehen, Zeitungen und sogar die Verpackung von Milchkartons.

1976 strahlte der norwegische Rundfunk NRK sein erstes Oster-Krimidrama mit Lord Peter Wimsey in der Hauptrolle aus. Seither scharen sich die Familien Jahr für Jahr ums TV-Gerät, was selbst unter Theologen ein Thema ist.

Konkret an der Theologischen Fakultät der Universität Oslo, wo man sich intensiv mit dem wahren Wesen von Ostern beschäftigt. Wo, wenn nicht hier, läge es näher, dass die Mordlust der Menschen am wichtigsten aller christlichen Feiertage für Verdruss sorgt?

„Ich finde Osterkrimis absolut genial! Es ist eine hervorragende Form der Entspannung“, lautet stattdessen die Einschätzung von Merete Thomassen. Sie ist außerordentliche Professorin für Liturgie und glaubt nicht, dass es ein Zufall ist, der Krimis zum Ostergenre schlechthin machte.

„Die Elemente Mord, Korruption und Verrat, diese Themen des klassischen Kriminalromans passen gut zu Ostern“, meint sie. Denn der Forschung nach begann ungefähr zu der Zeit, als der Roman „Bergenstoget plyndret inat!“ herauskam, die traditionelle österliche Nüchternheit zu schwinden.

“Da gibt es eine tiefe Spannung zwischen Dunkelheit und Licht“

Will heißen: Es öffnete sich Raum für neue Traditionen, weit abseits kirchlicher Dinge. „Statt die Gottesdienste während der Ostertage zu besuchen, sehen sich viele jetzt die Osterkrimis im TV an. Vorzugsweise in Echtzeit“, sagt Thomassen.

Die Lust am Düsteren sei tatsächlich in der christlichen Tradition angelegt, sagt sie laut ScienceNorway, jedenfalls ein Stück weit. „Da gibt es eine tiefe Spannung zwischen Dunkelheit und Licht. Der Karfreitag etwa ist extrem dramatisch geprägt.“

In der Kirche gebe es am Tage des Todes Jesu vor allem dunkle, gedeckte Farben, keine brennenden Kerzen, keine Orgelmusik. Nichts Feierliches. „Dieser Tag ist in eine existenzielle Dunkelheit gehüllt, die wir aushalten müssen“, erläutert sie.

Erst die Osternacht bringe „dann die Explosion der Freude“. Der Organist kehre in den Gottesdienst zurück, der Chor singe. „Die Katholiken feiern in dieser Nacht oft ein großes Fest, mit gutem Essen und Getränken bis in die Morgenstunden“, sagt Thomassen.

Zwei volle Tage also, in denen man sich dem Dunkel genüsslich hingeben kann. Was also wäre besser geeignet als ein guter Krimi, um die Zeit bis zur Auferstehung Jesu zu überbrücken, dessen Ende auf Erden ja selbst nicht frei von krimineller Energie und schonungsloser Brutalität war.

Verraten von Judas, gefoltert und geschlagen, bestialisch gekreuzigt und gestorben in „Begleitung“ zweier Verbrecher am Berg Golgota, gehüllt in Finsternis. Wäre der Plot nicht 2.000 Jahre alt und sozusagen auserzählt, gäbe es fast keine bessere Vorlage für einen Krimi der Extraklasse.

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