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Ein Vortrag in der estnischen Botschaft Berlin

Erinnern und hoffen, neue Narrative für Europa zu finden

Die Geschichte Estlands hätte einen Vorteil: “Sie ist kurz”, meinte ein Sitznachbar im Vortragssaal der Botschaft von Estland am 31. Oktober in Berlin.

„Kriegsausgang – Umbruch – Unabhängigkeit – Der Erste Weltkrieg und die „Nachkriegszeit“ in der estnischen und deutschen Erinnerung“ hieß das Thema der Podiumsdiskussion. Die Veranstaltungsreihe „Erinnern – Begegnen – Lernen“ wird vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge europaweit durchgeführt.

Deutsche Militärparade in Tartu
Militärparade deutscher Truppen in Tartu, 1918.

Estland und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg – kann man so verschiedene Dinge wirklich vergleichen? Sehr grundsätzlich fragte das Publikum ganz am Ende des Gesprächs, das Dr. Kaarel Piirimäe (Universität Tartu), Juniorprofessor Tim Buchen (TU Dresden) und Hartmut Tölle (Vorstandsmitglied im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.) auf dem Podium bestritten.

Die Erlebnisse und Erinnerungen in beiden Staaten unterscheiden sich. Der Vertrag von Versailles prägte das deutsche Verständnis der Kapitulation und der nach 1918 folgenden Wirkungen. Für die deutsche Bevölkerung brach ein Weltbild zusammen, so Hartmut Tölle. Die Kriegsgräber seien heute die Zeugen dieser Zeit – europaweit: “Sie sind Ausdruck unserer gemeinsamen Geschichte.” Fragen nach dem Warum? seien immer wieder zu beantworten: Wer waren die Opfer? Und wer waren die Täter?

Die estnischen Veteranen des Ersten Weltkrieges seien heute fast vergessen, so Kaarel Piirimäe: “In Estland wie auch in den anderen baltischen Staaten wurde der Erste Weltkrieg durch die folgenden Kämpfe, die mit dem Zusammenbruch der deutschen Militärmacht und des politischen Systems in Russland zusammenhingen, im kollektiven Gedächtnis überschattet.”

Podiumsdiskussion estnische Botschaft Berli
Beim Vortrag und anschließender Podiumsdiskussion in der estnischen Botschaft Berlin. (Foto Jens Bemme)

Bis 1920 dauerten diese Kämpfe mancherorts und würden auch als “langer erster Weltkrieg” bezeichnet. Die Quellen für Nationalstolz und Nationalgefühl seien diese Jahre der Freiheitskriege gewesen. 80.000 Esten aus Estland und Livland und weitere 20.000 aus ganz Russland wurden für den Ersten Weltkrieg mobilisiert. Etwa 10.000 starben.

In den folgenden Freiheitskrieg seien etwa 75.000 Esten gezogen. Zwei Befunde seien dazu bemerkenswert: Die Entschädigungen der estnischen Regierung für Veteranen des Freiheitskrieges waren 1920 zehnmal höher, als die für die Veteranen des 1. Weltkrieges. Und: Veteranen des 1. Weltkrieges kämpften anschließend auch für die Unabhängigkeit Estlands, wobei es anfangs nur wenige Freiwillige für den Unabhängigkeitskampf gegeben hätte. Kaarel Piirimäe zitierte dazu aus Aufzeichnungen Mihkel Kaurs – ein estnischer Soldat, im November 1918 auf dem Heimweg aus deutscher Gefangenschaft:

… Außerdem wollten alle schon lange nach Hause gehen … Natürlich habe ich nicht auf den Aufruf reagiert, dem Freiheitskrieg beizutreten … meine Abenteuer in Deutschland hatten jegliches Interesse an Krieg oder anderen Abenteuern ausgelöscht … Aber dann wurden unter anderem patriotische Überlegungen in Erinnerung gerufen und ich gab auf.

Für Kaarel Piirimäe sind persönliche Erlebnisse der normalen Soldaten und ihre Alltagsgeschichten historische Perspektiven, die den Vergleich der estnischen und deutschen Geschichte nach dem Weltkrieg ermöglichen. Diese Sicht wurde kürzlich anhand der Tagebücher estnischer Soldaten in einem Projekt am estnischen Nationalmuseum erforscht, berichtete er.

Soldatenfiredhof Saaremaa
Zum Deutschen Soldatenfriedhof in Kuressaaare, Saaremaa. (Foto Nordisch.info)

Was wird nicht erinnert, wenn wir an den Ersten Weltkrieg denken, fragte Tim Buchen in seinem Beitrag. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs werde von Deutschen als belastender empfunden als die des Ersten Weltkriegs. Die Kriegsschauplätze des Ersten Weltkriegs in Osteuropa würden erst in jüngerer Zeit stärker beachtet.

Europäisches Erinnern sei vor allem mit der Westfront im Ersten Weltkrieg verknüpft. Besatzung, Zwangsarbeit und Staatsgründungen im Osten stünden bisher im Hintergrund. 1918 endete die deutsche Geschichte entlang der Ostfront aber nicht. Dazu sein Vorschlag: mehr Forschung, mehr bewusste Erinnerung und folgende Begegnungen, um den ost- und mitteleuropäischen Anteil an der deutschen Geschichtsschreibung zu stärken.

Estnische Freiheitskrieg 1918-1920
Karte: Estnischer Freiheitskrieg 1918-1920. (Foto Jens Bemme)

Einfache Antworten bot das Podium nicht. Deutlich wurde vielmehr, wie die Historiker nach Wegen suchen, um die Geschichte des Krieges anhand von Schicksalen Einzelner zu erforschen – und damit auch vergleichbar zu machen. Jahrhundertealte Ordnungen zerfielen damals in vielen Regionen Osteuropas.

Was nehme ich aus dieser Diskussion für die Zukunft mit?, lautete die Abschlussfrage. Kriegerdenkmäler des Ersten Weltkrieges gäbe es in Deutschland allerorten, stellte Hartmut Tölle fest. Sogenannte Grablagen beider Weltkriege, um die sich der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. seit langem kümmere, seien heute die Lernorte, an denen Namen, Schicksale und Geschichten anknüpfen könnten: “Was haben die gedacht? Was haben die gefühlt?” Und er erinnerte fragend an die gemeinsamen Werte: “Was bedeutet Freiheit heute in Estland – und für uns in Deutschland?”

“Die Narrative entwickeln, die uns weiterführen, um ein gemeinsames Bild zu bekommen”, das sei seine Hoffnung, um mit dem Wissen aus der Geschichte institutionelle Kompromisse und Erzählungen zu formen, so Dr. Mart Laanemäe, Estnischer Botschafter in Berlin.

Das Gebäude der Botschaft Estlands selbst bot dafür zwei weitere Anknüpfungspunkte. Zur Begrüßung berichtete der estnische Botschafter von 1920: Das Botschaftsgebäude sei das zweitälteste in Berlin. Die Schweizer Botschaft sei ein Jahr älter.

In der estnischen Stadt Tõrva gibt es heute außerdem die “Lettische Botschaft” – ein Café und Restaurant. In einem Coffee-Table-Book mit historischen Ansichten Tõrvas ist dort die Reise von August Bernhardt und Enn Saare dokumentiert, die 1936 mit dem Fahrrad nach Berlin fuhren, um die Olympischen Spiele zu erleben: 3000 km hin und zurück.

Es mag trivial klingen, aber die Geschichten Estlands und die Deutschlands verbanden schon immer diese etwa 3000 km. Die Geschichte des Staates Estland mag relativ kurz sein. Viele historische und wechselseitige Verbindungen sind es nicht.

Jens Bemme

Über den Autor
Jens Bemme aus Dresden forscht und twittert zu historischem Radfahrerwissen um 1900. Er studierte Verkehrswirtschaft und arbeitet im Bereich Landeskunde und Citizen Science der SLUB Dresden. Das Tourenbuch von Estland führte ihn im Sommer 2018 mit Umwegen von Tallinn nach Riga. // twitter.com/jeb_140 // jensbemme.de

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