Der berühmteste Mordfall des Landes wird neu verhandelt
Mord in Island: Staatsanwaltschaft und Verteidigung fordern Freispruch
Vor über 40 Jahren gestanden sechs junge Menschen, trotz ihrer Unschuld, den Mord an Guðmundur Einarsson und Geirfinnur Einarsson. Die beiden verschwanden im Jahr 1974 spurlos, woraufhin ein Fall aufgerollt wurde, den Island noch nie zuvor und seitdem gesehen hat. Die BBC beschrieb den Fall als einen der „schockierendsten Fehlschläge der Justiz, den Europa je gesehen hat.“
In diesem Jahr wurde der Fall vor dem Obersten Gericht Islands neu verhandelt, Staatsanwaltschaft und Verteidigung fordern den Freispruch. Der Urteilsspruch wird bald erwartet.
Was war geschehen?
In der Nacht vom 26. Januar 1974, Guðmundur Einarsson, ein 18-jähriger Gelegenheitsarbeiter, lief zufuß von Alþýðuhúsið in Hafnarfjörður in sein 10 Kilometer entferntes Zuhause. Er wurde zuletzt von einem Autofahrer gesehen, als der junge Mann fast vor seinen Wagen fiel. Guðmundur Einarsson wurde seitdem nicht mehr gesehen.
Zehn Monate später, am 19. November, Geirfinnur Einarsson, nicht verwandt und nicht verschwägert mit Guðmundur, ein 32-jähriger Bauarbeiter, erhielt spät zuhause einen Anruf. Dann fuhr er in ein Hafencafé in Keflavik. Er ließ den Schlüssel im Zündschloss stecken, und kehrte nie wieder zum Wagen zurück.
Auch eine großangelegte Suche rund um den Hafen ergab nichts. Obwohl es in Island hin und wieder vorkommt, dass Leute in Schneestürmen spurlos verschwinden, rollte die Polizei zwei Mordfälle auf. Und zwar ohne Motiv, ohne Zeugen, ohne forensischer Beweise und ohne Leichen.
Die Polizei stand unter einem großen öffentlichen Druck, die Fälle zu lösen.
Sævar Ciesielski, Kristján Viðar Viðarsson, Tryggvi Rúnar Leifsson, Albert Klahn Skaftason, Guðjón Skarphéðinsson und Erla Bolladóttirr wurden verhaftet. Nach einer gewissen Zeit unterschrieben sie die Geständnisse. Darauf basiert ihre Verurteilung wegen Mordes im Jahr 1980.
Bei der Neuverhandlung des Falles bezeichnete einer der Verteidiger die Ermittlungen und das Urteil als einen handfesten Justizskandal, wie die isländische Zeitung RÚV neulich berichtete.
Die Tatverdächtigen wurden bei den intensiven Verhören stark unter Druck gesetzt, hatten wenig Kontakt zu ihren Anwälten. Sie wurden unter hypnotische und psychoaktive Drogen gesetzt, Mogadon, Diazepam und Chlorpromazin. Ihnen wurde Schlaf entzogen und sie wurden der Wasserfolter ausgesetzt. Insbesondere der angebliche Rädelsführer Sævar Ciesielski, der unter Aquaphobie litt.
Die Verdächtigen gaben an, die Geständnisse unterschrieben zu haben, um der Isolationshaft endlich ein Ende zu setzen. Erla Bolladóttir war 242 Tage in Einzelhaft, zwei andere für mehr als 600 Tage. Einer von ihnen, Tryggvi Rúnar Leifsson, war 655 Tage in Isolationshaft – die längste außerhalb des Gefangenenlagers von Guantánamo Bay. Sævar Ciesielski blieb 1533 Tage in Untersuchungshaft.
Für Sævar Ciesielski und Tryggvi Rúnar Leifsson würde der Freispruch posthum erfolgen, Leifsson verstarb 2009 und Ciesielski im Jahr 2011.
Heute gehen die meisten Isländer und Juristen davon aus, dass die erzwungenen Geständnisse falsch sind. Eines der Opfer der Justiz, Kristján Viðar, bezeichnet die Verhörmethoden der damaligen Polizei als Folter.
Im Mai 2014 machte die BBC den Guðmundur und Geirfinnur-Fall öffentlich. 2017 drehte der kanadische Regisseur, Dylan Howitt, die Dokumentation „Out of Thin Air“, die von der BBC-Ausstrahlung inspiriert ist (zu sehen bei Netflix). Ein isländischer Film mit dem Titel „Lifun“ (Überleben) wurde 2017 zu diesem Fall von Egill Örn Egilsson gedreht, er soll 2019 Premiere feiern.
ap