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Ein Roman aus Lettland

„Muttermilch“ von Nora Ikstena – Rezension des lettischen Bestsellers

Für Literaturbegeisterte mit Bezug zum Baltikum ist dieses Jahr der Roman „Muttermilch“ der lettischen Autorin Nora Ikstena im Berliner KLAK Verlag erschienen. Doch auch ohne Baltikumbezug ist die Familiengeschichte ein Blickfang.

Rezension Muttermilch Nora Ikstena
Das Cover des Romans „Muttermilch“* und die lettische Autorin Nora Ikstena.
Zwei Frauen, Mutter und Tochter, erzählen abwechselnd von ihrem Leben im sowjetischen Lettland zwischen 1944 bis zum Mauerfall 1989. Die Mutter, 1944 geboren, und die Tochter, Jahrgang 1969, erleben das Sowjetsystem dabei aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Die Mutter erfährt früh, das System zu fürchten, als junges Mädchen trifft sie sich heimlich mit dem totgesagten Vater, nachdem dieser aus der politischen Gefangenschaft und Verbannung in seine Heimat zurückkehrt.

Deren eigene Mutter hatte sich nach der Deportation ihres Mannes im Zuge der sowjetischen Okkupation mit dessen angeblichem Tod arrangieren müssen und einen neuen Partner gefunden, mit dem sie ein mustergültiges Leben im System führt. Die Mutterfigur, in ihrer Funktion als Tochter, erlebt die Zerrissenheit zwischen der gesellschaftlich tolerierten neuen Familie und den Schmerz des zurückgekehrten Vaters.

Trotz allen Haders mit dem System, gelingt es ihr in jungen Jahren, als mustergültige Bürgerin zum Medizinstudium zugelassen zu werden und als angehende Ärztin ins damalige Leningrad auszureisen, um sich an einer renommierten Klinik ihrem Schwerpunkt, der Gynäkologie, zu widmen.

Doch die nur an der Oberfläche mustergültige Sowjetbürgerin löst einen Skandal aus, als sie in Leningrad einen ehemaligen Kriegsveteranen zusammenschlägt, woraufhin sie die Stadt verlassen und nach Lettland zurückkehren muss, gleichsam in die Verbannung.

Eine kurze Liaison führt zu einer Schwangerschaft. Gebrochen und aller Zukunftspläne beraubt, verweigert die Mutter ihrer 1969 geborenen Tochter die Brust und jegliche Zuwendung, so dass die Großmutter das Kind gmeinsam mit dem Stiefgroßvater aufzieht, während sich die Mutter des Kindes immer tiefer in Büchern verliert und den Bezug zu ihrer Familie und der Gesellschaft fast vollständig kappt.

Erst als sie in der Provinz in einer Ambulanz als Gynäkologin eine Anstellung findet, nimmt sie ihre inzwischen schulpflichtige Tochter zu sich, die fortan zwischen der suizidalen Mutter und, in den Ferien, den fürsorglichen Großeltern pendelt.

Je älter die Tochter wird, desto mehr nimmt die Geschichte an Fahrt auf. Abwechselnd mit der Mutter nimmt die Tochter im Roman die Erzählstimme ein. Immer wieder bringt Ikstena die Metapher der Muttermilch, die lebensspendend oder vergiftend über das Schicksal des Kindes entscheidet, ins Spiel. Die Symbolik nimmt bisweilen mystische Züge an, die jedoch den Handlungsstrang nur am Rand beeinflussen.

Und so ist auch die Metapher der Muttermilch bald ausgeschlachtet und reizlos. So interessant der Gedanke auch sein mag, dass die vom System vergiftete Mutter das Kind vor der gleichfalls vergifteten Milch schützen will, diese Metaphorik gelingt Ikstena in dem Buch eher schlecht als recht. Die Geschichte würde auch ohne „Muttermilch“ auskommen können, vielleicht noch besser. Die literarische Aufladung der Muttermilch mit allerlei Bedeutung und Schwere lässt diese bloß versauern.

Das ist jedoch der einzige Mangel an dem in fünfzehn Sprachen übersetzten Roman, den ich anbringen kann.

Ich empfehle das Buch voll und ganz. Der Leser nimmt am Lebenswandel dreier Generationen im sowjetischen Lettland teil, von den Anfängen der Okkupation bis hin zum Berliner Mauerfall und der Singenden Revolution.

Seit dem Erscheinen ihres ersten Romans 1998 hat Nora Ikstena 20 Bücher veröffentlicht. Zu Recht hat ihr aktueller Roman einen Platz auf der Shortlist des EBRD-Literaturpreises 2019 in London erhalten und einen Platz in meinem Buchregal.

Muttermilch*
Roman von Nora Ikstena
214 Seiten
KLAK Verlag, 29. Juli 2019
Aus dem Lettischen von Nicole Nau

Buchbesprechung von Schlimme Helena

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