Interview mit Enn Meri
„Wir kriegen mehrere Zehntausend arbeitslose Steuerberater“
Enn Meri lebt auf der Insel Saaremaa, er ist Präsident der Deutsch-Baltischen Handelskammer (Regionalvorstand Estland), Mitglied des Estnischen Parlaments und Gründer einer Autozuliefererfabrik auf Saaremaa. Im Laufe der Jahre baute Meri die Fabrik zum größten Arbeitgeber der Insel aus. Inzwischen gehört der Betrieb zur Freudenberg Unternehmensgruppe, einem global agierenden Zulieferer mit Sitz in Weinheim. Heute widmet sich Enn Meri vorwiegend seinen Ehren- und politischen Ämtern, sowie seiner Familie. Wir sprachen mit ihm über die Digitalisierung Estlands und Deutschlands, und warum Reformen in einem Land besser funktionieren und in einem anderen schlechter.
Herr Meri, als Präsident der Deutsch-Baltischen Handelskammer und Parlamentsabgeordneter haben Sie einen überregionalen Blick auf wirtschaftliche Zusammenhänge. Wie steht es aktuell um die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und den baltischen Staaten allgemein und Estland im Besonderen?
Die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und den baltischen Staaten sind gut und funktionieren. Wenn wir uns aber die deutschen Investitionen in Estland anschauen, muss ich leider sagen, dass Finnland und Schweden viel mehr in Estland investieren als die Bundesrepublik. Hier gibt es Raum für Wachstum, und ich denke, es wäre zum Vorteil für beide Parteien.
Zuletzt diente Estland häufig als innovativer Gegenentwurf, wenn in Deutschland etwas nicht funktioniert – Stichworte „Digitalisierung“, „schlanke Bürokratie“, „Mobilität“. Teilen Sie diese Wahrnehmung?
Ja, es ist leider nicht so einfach, wie hier in Estland, die Dinge in Deutschland zu verändern. Deutschland ist zu groß und hat auch andere Traditionen.
Was läuft gerade falsch in Deutschland, beispielsweise bei der Digitalisierung?
Ich glaube, dass die Deutschen zu viel über Themen wie Datenschutz diskutieren, sie haben Angst davor, was die Behörden mit den Daten alles machen könnten. In Estland sind die zentralen Datenregister miteinander gekoppelt. Der Kernpunkt in unserer Digi-Welt ist unsere digitale Identität, zusammen mit einer elektronischen ID-Karte und PIN-Code.
Damit können wir alle juristischen Verträge unterzeichnen, und wir können selbst in die zentralen Datenregister reingehen und unsere eigene Daten anschauen. Wir können aber auch sehen, z.B. welcher Arzt die Krankendaten eingesehen hat. Wenn ich der Meinung bin, dass dieser Arzt mit meinen Daten nichts zu tun hat, kann ich darüber eine Meldung beim Datenschutzamt machen und der Arzt kann bestraft werden.
Wie oft kommt es vor, dass deutsche Politiker und Wirtschaftsvertreter bei Ihnen anklopfen, um sich ein paar Reform-Tipps abzuholen?
Es ist ein paar Mal vorgekommen. Wenn ich z.B. unser Steuersystem beschreibe (bis 500 € pro Monat steuerfrei und danach 20 % Einkommensteuer mit wenigen Abzugsmöglichkeiten) und frage: „wäre es nicht etwas für Deutschland?“, kommt oft die Antwort, „es ist politisch nicht möglich“ und „dann kriegen wir mehrere Zehntausend arbeitslose Steuerberater, das geht nicht“.
Bleiben wir noch einmal beim Beispiel Estland: Woher kommt dieser Wille zur innovativen Gestaltung?
Ich glaube, dass es daher rührt, dass die meisten Esten rational denkende Menschen sind, die, wenn etwas nicht funktioniert, gerne etwas anderes probieren.
Welche Rolle spielt bei dieser Reformbereitschaft rückbetrachtend die jahrzehntelange Abhängigkeit von dem Sowjetsystem?
Das Sowjetsystem war als politisches und als wirtschaftliches System das schlimmste, was der Mensch bis jetzt erfunden hat. Davon gab es nichts zu übernehmen, wir haben alles von Anfang an neu aufgebaut. Die meisten Reformen waren klug und vernüftig.
Haben es kleinere Staaten leichter, gesellschaftliche Weichenstellungen beherzt und schnell anzugehen?
Es handelt sich im Grunde um Systemträgheit. Ein kleiner Staat (aber nicht alle!) ist wie ein kleines Ruderboot und hat einen Wendekreis von 5 Metern, ein großer Staat (aber nicht alle!) ist wie ein Supertanker, mit einem Wendekreis von 5 Seemeilen.
In Deutschland findet gerade eine intensive Debatte über mögliche Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit der Zukunft statt. Wie verhält es sich mit solchen Fragestellungen in den baltischen Staaten?
In Estland gibt es meines Wissens sehr wenige Menschen, die irgendwelche Angst vor der Digitalisierung haben. Ich denke, dass man in den anderen baltischen Staaten ähnlicher Meinung ist.
Steht eine digitale Infrastruktur erst einmal, kann daraus in der Theorie neue Innovation erwachsen. Wie schätzen Sie beispielsweise in den kommenden Jahren die Rolle Estlands beim autonomen Fahren ein? Wird man auch hier mutig vorangehen?
Ich persönlich bin von selbstfahrenden Fahrzeugen nicht ganz überzeugt, mit der Ausnahme von selbstfahrenden Nutzfahrzeugen auf Werksgeländen und ähnliches. Aber ich glaube, dass z.B. die Industrie 4.0-Aktivitäten für Estland sehr wichtig sind, sie haben bei uns höchste Priorität.
Sie haben ein interessantes Schicksal. Geboren auf der Insel Saaremaa, sind Sie kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs als Zweijähriger mit Ihren Eltern in einem Boot nach Schweden geflohen. In Schweden haben Sie studiert, eine erfolgreiche Karriere gemacht, eine respektable und hochbezahlte Arbeit gehabt. Dennoch gaben Sie all das auf und kehrten 1991, direkt nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Estlands, nach Saaremaa zurück. Warum?
Ich bin sowohl etwas altmodisch als auch ein Patriot. Ich wollte etwas für Estland und Saaremaa machen, vor allem etwas, das zu neuen Arbeitsplätzen auf Saaremaa führen konnte. Ich habe soweit Glück gehabt, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen bin.
Sie gründeten eine Autozulieferfabrik. Mit über 350 Mitarbeitern ist die Merinvest OÜ der größte Arbeitgeber auf Saaremaa. Was bedeutet Ihnen diese Insel?
Es ist ein schönes Land mit tollen Menschen. Meine Vorväter haben hier seit Jahrhunderten gelebt. Ich bin hier fest verwurzelt.
Haben Sie und Ihre Eltern die estnische Sprache in Schweden immer gepflegt, oder mussten Sie die Sprache zum Teil neu erlernen?
Wir haben in unserer Familie immer Estnisch miteinander gesprochen, Estnisch ist meine Mutter- und Herzenssprache. Meine Ausbildung habe ich in schwedischer Sprache absolviert und es ist daher nur natürlich, dass es Fachausdrücke auf Schwedisch gab, die ich auf Estnisch nicht kannte, und die habe ich hier gelernt.
Sind Sie damals auf Saaremaa mit offenen Armen empfangen worden?
Meistens ja, aber nicht immer.
Bei gutem Wetter kann man von Saaremaa aus die Küste Lettlands sehen. Dennoch dauert eine Reise von Saaremaa nach Lettland fast einen halben Tag, wenn man kein eigenes Boot besitzt. Seit einiger Zeit wird sehr konkret darüber nachgedacht, eine Fährverbindung zwischen der Insel und Lettland einzurichten. Würden Sie eine solche Verbindung begrüßen?
Ich würde eine Fährverbindung begrüßen, aber die wirtschaftliche Realität sieht leider anders aus. Das Personverkehrsvolumen ist nur in der Sommerzeit genügend, ein Gütervolumen existiert nicht. Wir haben vor einigen Jahre eine Fährverbindung mit Liepaja gehabt, aber die ist aus genannten Gründen gestorben.
Welche Verbindung haben Sie noch nach Schweden, abgesehen davon, dass Sie Schwedisch wie eine Muttersprache beherrschen? Sind Sie oft in Ihrer zweiten Heimat?
Ich habe heute wenig Verbindung mit Schweden und bin da vielleicht 2 – 3 Mal pro Jahr.
Zum Abschluss noch eine Bitte um Einschätzung: Welche Berufsgruppen werden Ihrer Meinung nach (ausgenommen Programmierer) am meisten von bzw. innerhalb der digitalen Welt profitieren? Und warum wird das so sein?
Ich glaube, dass sehr viele Berufsgruppen davon profitiern werden. Die Industrie ganz sicher, wenn wir die Maschinen mit den Planungssystemen verbinden können und immer ein aktuelles Lagebild bekommen. Dann können wir Probleme eliminieren bevor sie groß werden.
Vielen Dank für das Gespräch!
ap