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Briefe aus England

Wie Boris Johnson zentrale Teile des Test and Trace-Systems an Teenager auslagerte

Diese Woche habe ich unseren Premier Boris Johnson auf BBC bei „Prime Minister’s Questions“ gesehen. Dieses TV-Vergnügen gibt es jeden Mittwoch.

NHS Test and Trace
(Foto: Pia Kurtsiefer)
Johnson gab sich ganz Biden-begeistert, wie das Fähnchen im Winde. Die Frage, ob er seinem alten Kumpel Trump nicht mal gut zureden könne, endlich das Wahlergebnis zu akzeptieren, ignorierte er. Sagte, er habe ein gutes Telefonat („refreshing conversation“) mit Biden geführt. Die beiden werden sich nun um den Klimaschutz kümmern. Nächstes Jahr finde die Klimakonferenz der Vereinten Nationen in London statt. Was tatsächlich erfreulich ist, egal wo diese gehalten wird.

Johnson klopfte allerdings auch wieder populistische Sprüche. Die Worte „Taking back Control“ kamen über seine Lippen. Die Coronapandemie kann er jedenfalls nicht damit gemeint haben.

Am Mittwoch erreichten die Covid-Todeszahlen im Vereinigten Königreich, als erstem Land in Europa, die traurige Zahl von über 50.000.

Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen, da die Regierung nur noch die Tode derer zählt, die innerhalb von 28 Tagen nach ihrer Covid-Diagnose sterben. Diese Veränderung wurde im August vorgenommen und hat die damaligen Todesfälle mit einem Schlag von 42.072 auf 36.695 reduziert.

Eine Zeitlang konnten die alten Daten noch eingesehen werden, wurden dann jedoch von der Regierung entfernt.

Was Johnsons Rede endgültige die Krone aufsetzte war, dass er das britische „Test and Trace“ System lobte. Er posaunte stolz und laut, dass im Vereinigten Königreich so viel getestet werde wie „nirgendwo sonst in Europa“. Was stimmen würde, wenn Dänemark nicht mehr testete.

Aber es stimmt schon, Großbritannien testet viel, was auch bitter nötig ist. Dass das alles viel zu spät kam und wir eine katastrophale erste Welle der Pandemie erleben mussten, davon will Johnson nichts wissen.

12 Milliarden Pfund für das Test- und Rückverfolgungssystem in den Sand gesetzt

Schauen wir uns einmal das von Johnson gelobte „Test and Trace“ System in England genauer an. Ende letzten Monats erschien hierzu ein informativer Artikel im Guardian.

Die Regierung hat bisher 12 Milliarden Pfund für „Test and Trace“ ausgegeben. Dieses Geld hätten sie sich jedoch sparen können, da sie andere Maßnahmen völlig verschlafen hatten. Stattdessen haben sie sogar der Ausbreitung des Virus vorschub geleistet, indem sie Leute mit Appellen wieder zur Arbeit außer Hause geschickt und Familien mit 50%-Rabatten in Pubs und Restaurants gelockt („Eat Out to Help Out“).

Die Regierung tat so, als sei sie nicht nur von allen guten Geistern, sondern auch vom Coronavirus verlassen worden. Dieses freute sich stattdessen und vermehrte sich wieder fleißig, vor allem als dann noch die Schulen inmitten dieses Regierungsversagens geöffnet wurden. Ohne Maskenpflicht natürlich, da Kinder bekanntlich keine Lungen haben und das Virus nicht verbreiten können.

So kam es, dass die Fallzahlen wieder in die Höhe schossen und das teure „Test and Trace“-System nur noch 60% aller Fälle nachverfolgen konnte. Mindestens 80% sind für ein funktionierendes System erforderlich.

12 Milliarden Pfund, futsch. Um es einmal in Relation zu setzen: 12 Milliarden Pfund sind mehr, als der gesamte Haushalt für die Allgemeinmedizin im Vereinigten Königreich bekommt. Der Gesamtbetrag des NHS, für dessen Gebäude (Krankenhäuser, Arztpraxen usw.) und Ausstattungen, beträgt 7 Milliarden Pfund.

Um benachteiligten Kindern Essen über die Weihnachtsferien zu bezahlen, muss die Regierung ungefähr 120 Millionen Pfund aufwenden, 1% des „Test and Trace“-Betrages.

Gegen diesen Vorschlag hat sich Johnsons Regierung vehement gesträubt, und erst nach mehreren Protesten der Opposition und einer Petition von Fußballprofi Marcus Rashford von Manchester United vor einigen Tagen nachgegeben.

Das ganze Geld, das für Test and Trace ausgegeben wurde, kann nun ironischerweise nicht mehr klar zurückverfolgt werden.

Private Unternehmen bereichern sich an Anti-Corona-Maßnahmen

Das System selbst wird von Dido Hardings Unternehmen Serco beaufsichtigt. Harding ist eine Geschäftsfrau mit keinerlei Erfahrung im Gesundheitswesen oder im öffentlichen Dienst.

Die Regierung hat einen undurchsichtigen Mischmasch aus öffentlicher und privater Provisionierung erstellt, bei dem Lieblinge der Regierung aus der privaten Wirtschaft bevorzugt wurden, dabei wird das bestehende Gesundheitssystem zunehmend privatisiert und geschwächt.

Aber das ist laut des Guardian längst nicht alles. In einem anonymen Gespräch mit einem Angestellten von Serco stellte sich folgendes heraus:

Bis Mitte Oktober haben die Leute im Callcenter eine recht einfache Aufgabe gehabt. Sie mussten diejenigen anrufen, die als Kontakte von infizierten Personen identifiziert worden waren und ihnen sagen, sie sollen sich für 14 Tage in Isolation begeben. Die Beratung, die sie ihnen angedeihen ließen, wurde abgelesen und war sehr allgemein. Dabei mussten sie noch ein paar Daten erheben, das war’s.

Dann auf einmal wurde im Oktober verkündet, dass alle Mitarbeiter des Test and Trace-Systems nun „befördert“ wurden („höher qualifiziert sind“). Statt dieser eher einfach durchzuführenden Anrufe werden sie fortan die infizierten Personen anrufen und mit ihnen zusammen deren Kontakte der vergangenen zwei Wochen ermitteln.

Das berühmte „Backwards-Tracing“, das in der Tat sehr wichtig ist, aber eigentlich von dafür qualifizierten Personen durchgeführt werden soll. In der Stellenanzeige des NHS werden für diese Rolle erfahrene Mediziner gesucht.

Die Aufgaben der Arbeit sind laut der Stellenbeschreibung unter anderem „Erstellung einer Risikobewertung“, „Erteilung von medizinischem Rat“ und „Verweis komplexer Fälle an Spezialisten mithilfe der eigenen klinischen Erfahrung.“ Jeder erfolgreiche Bewerber würde eine dazu eine Fortbildung erhalten.

Nun beseht ein Großteil der Leute, die in den Callcentern diese neue Postion erhalten haben, aus Schulabgängern und Studenten ohne relevante Qualifikation. Während die Stelle mit einem Gehalt von £16,97 bis £27,15 die Stunde ausgeschrieben ist, erhalten die Callcenter-Leute den Mindestlohn von £6,45, wenn sie zwischen 18 und 20 Jahre alt sind (die meisten) oder £8,72, wenn sie über 25 sind.

Serco informierte ihre Mitarbeiter intern über diese Veränderungen. Das interne Schreiben gelang anonym an die Presse. In dieser Mitteilung hieß es, eine Reihe von erfahrenen Mitarbeitern von Serco und Sitel werde das „index case tracing“ unterstützen.

Es wurde nicht erwähnt, dass ein Teil dieser „erfahrenen Mitarbeiter“ 18 Jahre alt ist.

Das „angemessene Training“ für die Beförderung dauerte vier Stunden und fand online statt, bestehend aus einer PowerPoint-Präsentation, einem Online-Gespräch, einem Test, einigen online Modulen und einigen Vorgaben für die bevorstehenden Telefonate.

Der anonyme Kontakt sagte dem Guardian des Weiteren, dass niemand gefragt wurde, ob er/sie diese neue Rolle auf sich nehmen wolle. Es blieb den jungen Menschen keine Wahl, es wurde von ihnen einfach erwartet. Niemand fühlte sich in der Lage, die neue Rolle abzulehnen.

Die anonyme Kontaktperson habe nach der Bekanntgabe drei Stunden lang geweint. Anderen Kolleginnen und Kollegen sei es ebenso ergangen, oder sie hatten gar Panikattacken. Alle fühlten sich überfordert.

Auf die Frage, wie das neue Vorgehen nun liefe, kam die zu erwartende Antwort, alles laufe „beschissen“.

Innerhalb der ersten Stunde in der neuen Rolle mussten drei der jungen Leute Telefonate mit Menschen führen, die gerade einen Angehörigen/eine Angehörige an Covid verloren hatten.

Die Menschen, mit denen sie telefonierten, waren verzweifelt. Die Mitarbeiter, die die Anrufe tätigen mussten, waren anschließend ebenso verzweifelt. Sie mussten den Rest des Tages frei nehmen.

Eine Fortbildung in Trauerbewältigung gab es nicht. Nur eine vorgedruckte Seite mit allgemeinen Sprüchen und Empfehlungen. Diese helfen nicht, wenn mit jemandem telefoniert wird, der gerade seinen Ehemann an Covid verloren hat.

Außerdem wurden die Mitarbeiter andauernd an ihre „Geheimhaltungsverpflichtung“ erinnert.

Als der Guardian-Autor diese Beschuldigungen mit Serco besprechen wollte, wurde von denen darauf verwiesen, dass die Anweisungen von der Regierung kamen, und er sich mit seinen Bedenken daher an das „Department of Health and Social Care“ (DHSC) wenden solle.

Dieses Amt bestätigte ihm die Änderungen, die anonym an die Presse übermittelt worden waren und sonst vermutlich nie an die Öffentlichkeit gelangt wären. DHSC behauptete weiterhin, alle Mitarbeiter hätten freiwillig die neue Position angenommen und die Arbeit sei nun aufgeteilt worden. Ein Teil der Arbeit werde von fortgebildeten Callcenter-Mitarbeitern ausgeübt und der andere Teil von „qualifizierten Gesundheitsexperten“. Dies wird vehement von der Kontaktperson des Guardian-Autors verneint.

Anfangs wurde diese Arbeit von Gesundheitsexperten des NHS ausgeübt. Nun sind es Callcenter-Angestellte von Serco und Sitel, beides private Unternehmen.

Öffentlich angestellte medizinische Experten wurden durch unqualifizierte Laien ersetzt, auf Mindestlohnbasis.

Während das britische Gesundheitswesen zu Grunde geht, schnellen die Aktien von Serco in die Höhe. Das Unternehmen hat dieses Jahr einen so großen Gewinn gemacht, dass es nun überlegt, Dividende auszuzahlen. Den Gewinn hätte der gemeine Bürger mit seinen Steuergeldern finanziert, die die Regierung unverantwortlich verwaltet hat.

Dies ist nur ein Beispiel, welches nachvollzogen werden kann. Milliarden wurden an private Unternehmen ausgegeben und die Geldflüsse lassen sich nicht zurückverfolgen.

Es wurde berichtet, dass von dem „Pandemie-Budget“ des DHSC drei Milliarden Pfund nicht aufzufinden seien. Gleichzeitig ist der NHS so unterfinanziert, dass wesentliche Aufgaben und Berufsfelder von Ehrenamtlichen ausgeübt werden müssen, die sonst zwischen £450 und £550 pro Tag mit dieser Arbeit verdienen würden.

Die Regierung nutzt die Pandemie, um die Grenze zwischen öffentlicher und privater Versorgung zu verwischen und lukrative Verträge an unqualifizierte Privatunternehmen zu übertragen.

Wenn man Boris Johnson danach fragte, was er mit den Steuergeldern mache, müsste er, frei nach George Best, anworten: „Ich habe viel Geld für Schnaps, private Unternehmen und schnelle Autos ausgegeben – den Rest verschleudere ich einfach“.

Pia Kurtsiefer

Über die Autorin
Vor über 14 Jahren zog Pia Kurtsiefer aus dem Rheinland nach London, um als Lehrerin in einer Schule für autistische Kinder zu arbeiten. Heute lebt sie mit Kind und walisischem Mann in Hertfordshire. Für NORDISCH.info schreibt sie die Serie „Briefe aus England“.

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