Facebooktwitterpinterestrssinstagram

Neues DNA-Analyseverfahren

Norwegen: 20 Jahre zu Unrecht im Gefängnis – Staat entschuldigt sich für bitteren Justizirrtum

Eigentlich eine Geschichte wie aus einem skandinavischen TV-Krimi: Der Norweger Viggo Kristiansen, wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung und Ermordung zweier Mädchen über 20 Jahre hinter Gittern, ist diese Woche auf ganzer Linie entlastet worden.

(Damals noch ein junger Mann: Viggo Kristiansen 2002 vor Gericht / Quelle: YouTube)

Der Fall trifft die norwegische Justiz in Mark und Bein, zumal es der zweite binnen weniger Tage ist, für den sich der Staat nun in aller Form entschuldigen musste. Sichtlich zerknirscht trat an diesem Freitag Staatsanwalt Jørn Sigurd Maurud vor die Kameras, um Kristiansen und seine Familie um Verzeihung zu bitten.

„Ich möchte mich zutiefst für das geschehene Unrecht entschuldigen“, sagte Maurud in Oslo. „Ich werde das Berufungsgericht bitten, Viggo Kristiansen freizusprechen.“ Worte wie Donnerhall in einem Fall, der Norwegen seit über zwei Jahrzehnten nie richtig losgelassen hat.

Was war geschehen? Kristiansen wurde zur Last gelegt, im Frühjahr 2000 zusammen mit seinem Freund Jan Helge Andersen zwei Mädchen im Alter von acht und zehn Jahren an einem Badesee im Freizeitgebiet Baneheia nahe Kristiansand vergewaltig und ermordet zu haben.

Lange Jahre galt Kristiansen, bei den Ermittlungen durch Andersen schwer belastet, als hauptverantwortlich für die bestialische Tat. Entsprechend hoch war das Strafmaß, mit dem ihn die Staatsanwaltschaft 2002 in zweiter Instanz hinter Gitter schickte: 21 Jahre Gefängnis plus Option auf Sicherungsverwahrung (Forvaring). Ein härteres Strafmaß kennt das norwegische Justizsystem nicht.

Stets gab es erhebliche Zweifel an Kristiansens Schuld – aber lange geschah nichts

Obwohl die Verteidigung stets Zweifel an der Story von Andersen angemeldet hatte, ruhte der Fall eine halbe Ewigkeit. Dabei war es den Anklägern nie wirklich gelungen, Kristiansens Handydaten plausibel mit den Geschehnissen am Badesee in Verbindung zu bringen. Bis 2017 tat sich nichts.

Dann endlich erwirkte Verteidiger Arvid Sjødin die Wiederaufnahme der Ermittlungen, die im Juni 2021 zunächst zur Freilassung Kristiansens und nun zu seiner völligen Rehabilitierung führten. Ein halbes Leben nach dem Schuldspruch. Kristiansen hatte stets beteuert, unschuldig zu sein.

Baneheia Badesee
Irgendwo hier, an einem Badesse im Naherholungsgebiet Baneheia, geschah im Jahr 2000 das Unfassbare. Nun ist bewiesen, dass Kristiansen an den Sexualmorden nicht beteiligt war. (Foto: depositphotos.com)

Letztlich war es ein neues Verfahren zur DNA-Analyse, das den Ermittlern den Durchbruch ermöglichte. Das Ergebnis: Zweifelsfrei. Kristiansen kann nicht der Täter gewesen sein, weshalb sich Andersen nun für alles, was an jenem Tag im Jahr 2000 geschah, allein wird verantworten müssen.

Gut möglich, dass seine Haftstrafe von ursprünglich 19 Jahren damit längst nicht zu Ende ist. Die Staatsanwaltschaft hat jedenfalls angekündigt, den Fall auch aus diesem Blickwinkel noch einmal angehen zu wollen. Für Andersen heißt das: aus einfachem wird nun Doppelmord.

Auf Kristiansen hingegen, heute 43 Jahre alt, wartet nach zwei schlimmen Jahrzehnten immerhin ein Leben in Freiheit. „Mir ist klar, dass dieser Fall zutiefst tragische Folgen hat, vor allem für Kristiansen, der mehr als 20 Jahre im Gefängnis war und dem ein Großteil seines Lebens geraubt wurde“, so Staatsanwalt Maurud am Freitag.

Verteidigung kündigt millionenschwere Schadenersatzklage gegen den Staat an

Folglich kündigte Verteidiger Sjødin an, dass das Ganze ein juristisches Nachspiel haben werde. Sein Ziel sei es, im Namen von Kristiansen eine Entschädigungsklage gegen den Staat einzureichen, teilte er vor Reportern mit.

Die Rede ist von rund 30 Millionen Norwegischen Kronen (umgerechnet etwa 3 Millionen Euro), was angesichts dessen, was Kristiansen erleiden musste, keineswegs vermessen klingt. „Dieser Mann hat sein gesamtes Arbeitsleben verloren“, sagte Sjødin gegenüber NRK.no (auf Norwegisch, aktueller Beitrag mit Bildern und Videos).

„Er hat auch die Möglichkeit verloren, eine Familie zu gründen. Er hat eigentlich alles verloren, was es ihm ermöglicht hätte, ein normales Leben zu führen. Deshalb hat er einen berechtigten Anspruch auf Entschädigung“, so Sjødin. Kristiansen selbst lehnte bislang jeden Kommentar ab.

Erst in der vergangenen Woche hatten die Behörden in einem anderen norwegischen Mordfall den Verwandten eines Opfers auf Grundlage neuer DNA-Analysen freigesprochen. Auch in diesem Fall entschuldigte sich die Staatsanwaltschaft in aller Form. Schadenersatzforderungen sind anhängig. Keine angenehmen Tage für die norwegische Justiz.

Unser Geographie-Quiz: Norwegen und seine Landschaft

Sie wollen diesen Beitrag teilen?

Facebooktwitterredditpinterestmail
Subscribe
Benachrichtige mich zu:
guest

0 Comments
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen