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Interview mit MdEP Ivars Ijabs

„Wir Europäer sollten in den nächsten Monaten unsere Solidarität im Auge behalten“

Dr. Ivars Ijabs ist Politikwissenschaftler und Politiker der Partei Attīstībai/Par! (dt. „Entwicklung/Für!“). Seit 2019 sitzt er als lettischer Abgeordneter im Europaparlament. Im Interview spricht er darüber, was die aktuelle Krisenlage für Lettland, das Baltikum und Europa bedeutet. Florian Hartleb im Gespräch mit Ivars Ijabs.

Ivars Ijabs Interview
Ivars Ijabs, Politikwissenschaftler und MdEP. (Foto: CC BY-SA 4.0)
Florian Hartleb: Die Welt steht im Zeichen der Covid-19-Krise. Wie sehen Sie die momentane Situation in Lettland? Welche Folgen sehen Sie auf die Wirtschaft zukommen?

Ivars Ijabs: Was die Pandemie anbetrifft, ist es, gerade im Vergleich zu anderen Staaten, in Lettland gut ausgegangen. Dennoch wissen wir alle nicht, ob es zu einer zweiten Welle kommen wird. In wirtschaftlicher Hinsicht lebt das Baltikum von Wertschöpfungsketten, die auf gute persönliche, vertrauensvolle Beziehungen basieren. Es besteht auch eine große Angst, die wir in der Wirtschafts- und Finanzkrise spürten. Und wir dafür nicht vergessen, dass die Migration weiterhin ein bestimmendes, da ungelöstes Thema sein wird. Wir in den baltischen Staaten betrachten Emigration als größte Gefahr.

Florian Hartleb: Das EU-Krisenmanagement zu Covid-19 steht ja durchaus in der Kritik. Wie sehen die Möglichkeiten des Agierens für die EU, und was erhoffen Sie sich für das Baltikum?

Ivars Ijabs: In der Tat rückte unser vereintes Europa in ein schlechtes Licht. Wir sahen plötzlich, wie Grenzen geschlossen wurden. In der praktischen Lösung der plötzlich auftretenden Covid-Pandemie sehen wir ein Zuwenig an Europa. So haben wir nach wie vor 27 unterschiedliche Gesundheitssysteme. Wir können hier aus der Vergangenheit lernen, etwa aus der Hanse. Die Balten sind offen für jede Art von Vorschlägen, die koordinieren, und etwa in Forschung und Innovation neue Wege gehen. Wir Europäer sollten zunächst in den nächsten Monaten unsere Solidarität im Auge behalten, da andernfalls Rechtspopulisten und Euroskeptiker von der Situation profitieren. Diese Kräfte wollen spalten, wie wir momentan in Estland beobachten können.

Florian Hartleb: Denken Sie, dass nun ein erneuter Digitalisierungsschub kommen wird. Home Schooling und Home Offices wurden ja nun für viele Menschen zum Alltag geworden sind, ebenso die zahlreichen Onlinekonferenzen. Das Baltikum gilt ja als Vorreiter für digitale Lösungen, auch im Alltag der Menschen. Man denke an e-government, e-Gesundheit und eben auch die e-Schule. Wie denken Sie über die Corona-App, die nun auch in Deutschland eingeführt wurde?

Ivars Ijabs: EU-Bürger sollen ihre Corona-Apps auch in anderen Mitgliedstaaten nutzen können. Wie das funktionieren soll, ist derzeit noch unklar. Denn die EU-Staaten einigten sich bislang nicht auf einen gemeinsamen Standard für die Apps. Während Frankreich und Polen einen zentralen Ansatz verfolgen, entschieden sich die meisten anderen Länder inzwischen für das dezentrale Konzept, das auch von den Betriebssystemherstellern Google und Apple unterstützt wird. Generell brauchen wir europäische Anbieter wie Lösungen. Für die technologische Souveränität Europas müssen wir die Weichen stellen.

Florian Hartleb: Covid 19 könnte ja die Generationenkluft vergrößern, zumal die notwendigen Investitionen und Rettungspakete naturgemäß zu Lasten der kommenden Generation gehen. Wie lässt sich der gesamtgesellschaftliche Konsens herstellen, ein Kitt vermeiden?

Ivars Ijabs: Wir müssen uns nun erstmal um die Staatshaushalte und das Defizit im öffentlichen Sektor kümmern. Lettland steht hier viel besser da als andere Staaten wie Griechenland. Alle Länder sind natürlich frei, Schulden aufzunehmen. Die entscheidende Frage ist aber, wann und wie wieder Normalität einkehren kann.

Florian Hartleb: Seit geraumer Zeit beobachten wir ja die Ausbreitung von Fake news und Desinformation, die gerade die baltischen Staaten Sorgen macht. Die EU hat hier zahlreiche Initiativen gestartet. Wie lässt sich diese Entwicklung stoppen? Gibt es hier überhaupt Lösungen?

Ivars Ijabs: Wir aus dem Baltikum wissen, wie wichtig es ist, Plattformen zu regulieren. Die Finanzierung der Medien ist aber begrenzt. Daher gibt es auch wenig Mittel für gute Informationen – eine Lücke und ein Einfallstor für Fake news.

Florian Hartleb: Abschließend – wir sind alle keine Hellseher, dennoch erlauben Sie mir die Frage: Glauben Sie, dass das europäische Bewusstsein nach der Corona-Krise stärker oder schwächer wird? Also mehr Europa, oder nationalstaatliche Eigenwege?

Ivars Ijabs: Ich bin aus Überzeugender glühender Verfechter der europäischen Idee. Wir sehen ja gerade jetzt ein Defizit an Europa, etwa durch die nationalstaatlichen Gesundheitssysteme. Gerade Persönlichkeiten müssen jetzt den europäischen Gedanken weiter vorantreiben.

Das Interview mit Ivars Ijabs führte Florian Hartleb vom Deutsch-Baltischen Jugendwerk (DBJW) in Kooperation mit nordisch.info. Am 1. Juli spricht Ivars Ijabs in seinem Impulsvortrag „Digitalisierung, Diskurs und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ auf der Jugendkonferenz DBKdigital. Mehr Informationen dazu finden Sie unter www.dbjw.de

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