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„Eine Liebeserklärung an Estland“

Neue liberale Partei Eesti 200 schießt in Umfragen durch die Decke

An einem Januarmorgen 2019 bildet sich eine Menschenmenge am Tallinner Verkehrsknotenpunkt Hobujaama. Empört blicken die Wartenden auf Werbetafeln der Straßenbahnhaltestelle: „Hier nur Esten“ steht auf der einen Seite, „Hier nur Russen“ auf der anderen.

Eesti 200-Vorsitzende Kristina Kalla auf dem Parteitag im Oktober 2020. (© Liina Notta)
Diese provokante Aktion stürmte schnell die lokalen Medien und fand umgehend sowohl Befürworter als auch Kritiker. Die damals neugegründete Partei Eesti 200, die hinter den Plakaten steckte, hatte ihr Ziel erreicht: gesellschaftlicher Zusammenhalt und die Integration Russischsprachiger standen wieder auf der politischen Tagesordnung. Trotz der medialen Aufmerksamkeit scheiterte sie kurz darauf bei den Parlamentswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde.

In diesem November macht Eesti 200 wieder Schlagzeilen: Gleich drei Umfragen sagen der progressiven Partei 18 Prozent Unterstützung vorher. Seit Ende Oktober konnte sie ihr Ergebnis mehr als verdoppeln. Stünden in Estland heute Parlamentswahlen an, käme Eesti200 nach der oppositionsführenden, liberalen Reformpartei auf den zweiten Platz – noch vor allen drei Regierungsparteien. Wie kommt das?

Die Partei Eesti200 wurde 2018 gegründet – dem Jahr des hundertjährigen Staatsbestehens. Der Name leitet sich von ihrer Vision ab, Politik jenseits der Wahlperiode zu gestalten, bis zum zweihundertsten Jahrestag der Republik. Vorangetrieben wurde das Projekt unter Federführung der Vorsitzenden Kristina Kallas, der langjährigen Leiterin eines Hochschulkollegs in der vorwiegend russischsprachigen Stadt Narva.

Ausschlaggebend waren für die Gründer von Eesti200 vor allem Fragen der gemeinsamen Bildung estnisch- und russischsprachiger Schüler. Mittlerweile steht hinter der Partei ein breiteres liberales Programm, das über Integrationsfragen hinausgeht. Ihre Anhängerschaft wächst stetig; besonders junge Menschen kann die Bewegung für sich begeistern.

„Eine Liebeserklärung an Estland“ heißt ihr neues Grundsatzprogramm, das vergangenen Oktober veröffentlicht wurde. Darin setzt Eesti200 ehrgeizige und progressive Ziele für das Land: etwa den Abbau von Bürokratie, eine C02-neutrale Wirtschaft, die digitale Förderung des ländlichen Raums und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Insbesondere die klare Haltung zu Letzterem kommt bei liberalen Wählern gut an.

Die Ehe für alle bestimmt den aktuellen politischen Diskurs in der Baltenrepublik. Da Migranten als Feindbild momentan entfielen, stürzte sich der Koalitionspartner EKRE (Konservative Volkspartei) nun auf Homosexuelle, fasst der Journalist Ahto Lobjakas die Lage zynisch zusammen. Die ultrarechte EKRE hatte ihren Wählern ein Referendum über den Status der Ehe versprochen. Nach ihrer Vorstellung soll die traditionelle Ehe in der Verfassung verankert werden.

Zähneknirschend ließen die Koalitionspartner von der regierungsführenden Zentrumspartei und der konservativen Vaterlandspartei nun die Einberufung einer Volksbefragung gewähren. Sie sind auf EKRE angewiesen: Einerseits kann die Zentrumspartei nur mit ihrer Hilfe eine Regierung anführen. Andererseits muss die Vaterlandspartei befürchten, im Falle von Neuwahlen nicht mehr über die Sperrklausel zu kommen.

Die EKRE-Minister, die sich daher in Sicherheit wähnen, versuchten sich wiederholt über Skandale bei ihren Wählern zu profilieren. Wiederholt attackierte das Gespann aus Innen- und Finanzminister ihre vermeintlichen Feinde. Mart und Martin Helme – Vater und Sohn – zielen auf die freie Presse, Minderheiten, die Opposition und sogar die Präsidentin. An den Eskapaden drohte die Regierung in Tallinn bereits mehrfach zu zerbröckeln.

Im April 2021 sollen die Bürger Estlands nun entscheiden, ob die Ehe weiterhin als Bund zwischen Mann und Frau festgeschrieben sein soll – also für oder gegen den geltenden Status Quo. Das nicht rechtlich bindende Referendum wird das Staatsbudget mit mindestens 8 Millionen Euro belasten – und das mitten in Zeiten der Pandemie.

Gemeinsam mit den Estnischen Grünen nutzte Eesti 200 das Zögern der Oppositionsparteien. Als Erste stellten sie sich öffentlich gegen das Referendum. Obwohl die Partei aktuell keine Abgeordneten stellt, führt sie somit den Widerstand gegen das Vorhaben an. Die Sozialdemokraten zogen bald nach, die Oppositionsführer von der Reformpartei zögern.

Auch der generell wachsende Unmut gegenüber der Skandalregierung in Tallinn treibt mehr und mehr Wähler in die Arme der progressiven Newcomer. Nach Kommentaren über angeblichen Wahlbetrug in den USA trat Innenminister Mart Helme (EKRE) Mitte November zurück. Somit entging er dem drohenden Misstrauensvotum, das ihn wegen der Beleidigung der amerikanischen Verbündeten und der Infragestellung demokratischer Prinzipien erwartet hätte.

Progressive Kräfte bemängeln, der Rückzug Helmes sei nicht genug. Als erste namenhafte Politikerin brachte die Eesti 200-Vorsitzende Kristina Kallas daraufhin außerplanmäßige Wahlen ins Spiel. Das politische System stagniere und keine der Koalitionsparteien sei an einer ernsthaften Lösung interessiert, weil dies für sie den Machtverlust bedeute – so Kallas gegenüber der Zeitung Postimees.

Ihr Vorstoß trifft bei vielen Bürgern Estlands, die von der Regierung desillusioniert sind, auf Unterstützung. Ob es bald zu Neuwahlen kommen wird und die Koalition zerbricht, bleibt abzuwarten. Als größter potenzieller Gewinner sitzt Eesti 200 für diesen Fall schon in den Startlöchern.

Marcel Knorn

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