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Kleine Geschichte Estlands und Lettlands II: Die Georgsnacht

Jüriöö oder: Die Nacht, in der die Gutshöfe brannten

Seit 1995 erinnert ein Denkmal auf dem Sõjamägi (dt.: „Kriegsberg“) Bewohner und Besucher der estnischen Hauptstadt Tallinn an eine Schlacht, die 652 Jahre zuvor an eben dieser Stelle geschlagen wurde. In der Geschichte Estlands hat es viele Kriege und unzählige Schlachten gegeben. Für Generationen von Esten ist diese eine ganz besondere.

Karte Herrschaftsverteilung in Estland um 1343
Karte der Herrschaftsverteilung in Estland um 1343.

Denn hier kämpften zum letzten Mal seit der gewaltsamen Eroberung und Christianisierung des Landes estnische Bauern gegen die Herren des Landes. So zumindest ist – spätestens seit Eduard Bornhöhe 1880 seine Erzählung „Tasuja“ (dt. „Der Rächer“) veröffentlichte – der Jüriöö-Aufstand ein wesentlicher Baustein des national-estnischen Geschichtsbilds.
 Jüriöö-Park in Tallinn
Denkmal im Jüriöö-Park in Tallinn. (Foto Dmitry G)

Was war geschehen? Knapp 120 Jahre zuvor war der Nordwesten Estlands vom dänischen König unterworfen worden. Die Einwohner mussten sich taufen lassen, Kirchen bauen und den Zehnten entrichten. Unter den (zumeist niederdeutschen) Rittern aber, die mit dem König gekommen waren, wurde das Land aufgeteilt. Als Vasallen wurden sie die neuen Herren der Bauern, die ihnen nun Abgaben zahlen mussten. Doch ansonsten hatte sich zunächst nicht viel geändert.
Kloster Padis
Kloster Padis; estn. Padise Klooster (Foto Iifar)

In der Nacht zum 23. April 1343 aber überfielen plötzlich Bauern in Nordwestestland die Gutshöfe der Vasallen und das Kloster Padis, brannten sie nieder und erschlugen alle, die nicht rechtzeitig fliehen konnten. Dann wählten sie aus ihren Reihen vier „Könige“, die mit den Herrschern der Nachbarländer Verhandlungen aufnahmen. Erst mit dem schwedischen Statthalter in Finnland, dann mit dem Landmeister des Deutschen Ordens. Sie erklärten, dass man ihnen gern die Herrschaft über das Land übertragen wollte, solange sie nicht mehr so erdrückend hohe Steuern zahlen müssten.
Ordensburg Weißenstein
Von der Ordensburg Weißenstein ist heute noch der Turm erhalten.
(Foto Ivo Kruusimägi)

Doch bei den Verhandlungen auf der Ordensburg in Weißenstein kam es zu einem Handgemenge und die Lage eskalierte. Am Ende waren die vier „Könige“ und ihre Begleiter tot und ein Ordensheer zog nach Reval, wo es das Aufgebot der Bauern vor den Mauern der Stadt – am Sõjamägi – besiegte. Nach nur einem Monat schien der ganze Aufstand gescheitert.
Foto Entstand am 665. Jahrestag des Georgsnachtaufstands in Paide. Im Hintergrund der Turm der Ordensburg Weißenstein, niederdt. Wittenstein.
(Foto Magnus Manske)

Bevor die Ordensritter nun die versprengten Gruppen der aufständischen Bauern verfolgen konnten, mussten sie nach Osten abrücken. Denn der russische Fürst zu Pleskau hatte seine Chance gewittert und hatte das Stift Dorpat überfallen. Die estnischen Aufständischen nutzten die Atempause um sich neu zu organisieren. Und auch die Bewohner der Insel Ösel (Saaremaa) schlossen sich im Sommer 1343 dem Aufstand an.

Es sollte noch bis zum Frühjahr 1345 dauern, bis der Deutsche Orden in zwei weiteren Feldzügen den Aufstand niederwerfen konnte. Denn im Baltikum des Mittelalters führte man am besten im Winter Krieg, wenn die Moore und die Meerengen zwischen dem Festland und den Inseln zugefroren sind. Der dänische König aber sah ein, dass dieses Land am anderen Ende der Ostsee für ihn schwer zu verwalten und nicht zu verteidigen war und verkaufte es im Sommer 1346 an den Sieger, den Deutschen Orden.

Was aber war dieser Aufstand, der nach der Nacht seines Anfangs als Jüriöö- (Georgsnachts-)Aufstand in die Geschichtsbücher einging. War es „der letzte Versuch der freiheitsliebenden Esten, sich von den fremden Herren zu befreien“? So sah es die estnische Nationalbewegung seit dem 19. Jahrhundert. War es ein „Kampf der unterdrückten Massen gegen den Feudalismus“? So sah es die sowjet-estnische Geschichtsschreibung. Oder war es ganz anders?

Ein genauerer Blick in die wenigen Quellen, die wir haben, und auf die Landkarte verraten uns mehr: Denn es waren gar nicht „die Esten“. Mit Ösel, der Wiek und Harrien erfasste der Aufstand gerade einmal ein Drittel des Gebiets, wo Esten lebten. Die Chroniken berichten davon, wie die Aufständischen Boten nach Wierland, Dorpat und die Gegend um Fellin schickten. Doch diese wollten nicht mitmachen. Und warum boten sie gleich zu Beginn dem schwedischen Vogt und dem Ordensmeister ihre Unterwerfung an. Der Westen und Nordwesten Estlands ist bis heute ein wunderschönes, aber nicht besonders fruchtbares Land. Die Ritter aber, die dort als Vasallen lebten, mussten von den Abgaben ihrer Bauern ein „standesgemäßes Leben“ finanzieren. So, wie es ihre Verwandten in Westfalen, Niedersachsen und anderswo führten.

Für die estnischen Bauern bedeutete dies eine Abgabenlast, die sie kaum leisten konnten. Und ihren Vettern, die unter der Herrschaft des Deutschen Ordens lebten, denen ging es so viel besser. Die Bauern, die in der Georgsnacht 1343 die Gutshöfe anzündeten, handelten aus Not und Verzweiflung, weil sie neue, gnädigere Herren suchten. Nicht aus pathetischem Nationalstolz und Freiheitswillen oder einem proletarischen Bewusstsein für den Klassenkampf. Auch wenn das Eduard Bornhöhe oder Karl Marx nicht gerne hören würden.

Eine kleine Anmerkung zu den Namen: Die Geschichte Est- und Lettlands bringt es mit sich, dass im Laufe der Jahrhunderte dort Menschen ganz verschiedener Muttersprachen neben- und miteinander lebten. Dies führt – neben der politischen Geschichte – dazu, dass jede Stadt, fast jedes Dorf bis zu kleinen Inseln und Gutshäusern mehrere Namen tragen. Einen deutschen, einen estnischen und einen lettischen, oft auch noch einen schwedischen und einen russischen. Je nachdem, welche Sprache man gerade sprach oder schrieb, benutzt(e) man diesen oder jenen Namen für ein und denselben Ort. Was sich gelegentlich änderte, war die Amtssprache, nicht der Name der Stadt, wie estnischer Historiker zu sagen pflegte.

Dieser Beitrag folgt der Konvention, die von Historikern im Baltikum wie in Deutschland verwendet wird: Für die Zeit vor 1918 wird der deutsche Ortsname verwendet, für die Zeit nach 1918 der estnische/lettische.

Text und Karte von Dr. Martin Pabst

Über den Autor
Dr. Martin Pabst studierte Geschichte und Theologie und wurde mit einer Arbeit zur Reformationsgeschichte Rigas promoviert. Er arbeitet als Wissenschaftlicher Leiter zweier Stiftungen sowie freiberuflich als Autor, Studienleiter und Vortragsredner.
dr-martin-pabst.de // twitter.com/Dr_Martin_Pabst

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