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Erinnerung an Estlands Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges

Flucht nach Schweden

Wer von Saaremaa über die Ostsee in südwestliche Richtung fährt, findet nach 120 Seemeilen die schwedische Insel Gotland. Genau dahin ist am 22. September 1944 der zweieinhalbjährige Enn auf einem kleinen Fischerboot unterwegs, auf der Flucht vor der Roten Armee.

Das Boot steuert sein Vater, Oskar, an Bord befinden sich außerdem Enns Mutter, Linda, sein jüngerer Bruder, Mati, und weitere Leute, insgesamt fünfzehn Personen.

Am Morgen hatten Enns Eltern im Radio gehört, dass „der Russe“ in Tallinn einmarschiert war. Am Abend saßen sie schon in ihrem sieben Meter langen, offenen Fischerboot auf dem Weg nach Schweden.

Die deutschen Grenzsoldaten, die sonst den Strand bewachten, waren inzwischen fort. Die Flucht war zwar zuvor schon erlaubt, aber nur nach Deutschland. Nun schien der Weg nach Schweden frei. Enns Vater navigiert, zwei weitere Fischerboote voll mit Flüchtlingen fahren hinterher.

Gotland ist nicht mehr fern, doch viele Kriegsschiffe versperren den Weg. Sicher haben sie die Zivilisten schon entdeckt, sie unternehmen jedoch nichts. Enns Vater will ihnen dennoch lieber aus dem Weg gehen. Er setzt einen neuen Kurs, diesmal auf die Stockholmer Schären.

In der Nacht kommt ein Sturm auf, der dem Fischerboot und seinen Passagieren mit Wind und Wasser zusetzt, dann verreckt auch noch der Motor, die Lage scheint aussichtslos. „Wir kommen nie wieder weg von hier“, sagt der zweieinhalbjährige Enn zu seiner Mutter.

Estnischer Tag des Widerstands

Vor 75 Jahren besetzte die Sowjetunion Estland zum zweiten Mal.

Am 22. September 1944 marschierte die Rote Armee in die estnische Hauptstadt Tallinn ein. Die sowjetische Geschichtsschreibung behauptete, die Stadt von den Truppen der faschistischen Wehrmacht zu befreien. Fast 50 Jahre lang unter der sowjetischen Besatzung wurde dieser Tag als „Tag der Befreiung“ gefeiert. Eine Lüge, die zur Begründung der Okkupation diente.

An dem Tag, an dem die Sowjetarmee in Tallinn einmarschierte, befanden sich in der Stadt keine deutschen Truppen mehr – sie hatten sich bereits zurückgezogen und die Stadt hatte es nicht nötig, „befreit“ zu werden.

Tatsächlich hatte der ehemalige Präsident Estlands, Jüri Uluots, nach dem Abmarsch der deutschen Truppen sein Amt unter dem Ministerpräsidenten Otto Tief wieder aufgenommen. Diese Regierung verabschiedete eine Resolution zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit Estlands, sowie zur Neutralität im Krieg.

Trotz der Neutralität und der wiederhergestellten Integrität des Staates Estland entfernte die Rote Armee am 22. September 1944 die blau-schwarz-weiße Flagge Estlands vom Langen Hermann, dem mittelalterlichen Eckturm des Schlosses auf dem Domberg von Tallinn, und ersetzte sie durch die rote Flagge mit Hammer und Sichel.

Die sowjetischen Aggressoren ließen viele Mitglieder der Regierung hinrichten. Anderen, unter ihnen Uluots, gelang am 20. September 1944 die Flucht nach Schweden, wo bis 1992 die estnische Exilregierung ihren Sitz hatte.

Der Widerstand der Esten, der am Tag der sowjetischen Besatzung begann, und der Kampf für ein freies und demokratisches Estland gingen in verschiedenen Formen weiter, bis 1991 die Unabhängigkeit der Republik wiederhergestellt werden konnte. Das Datum des 22. September ist seither ein Tag, an dem die Esten ihres Widerstands gegen diese Besatzung gedenken.

Der Einmarsch der sowjetischen Armee in Tallinn markiert auch den Tag der massenhaften Flucht der Esten vor dem grausamen Regime der Sowjetunion.

Im Herbst 1944 verließen ungefähr 80.000 Esten aus Angst vor der vorrückenden Roten Armee ihr Land und flohen nach Deutschland und Schweden, später auch nach Großbritannien, in die USA, nach Kanada und Australien. Sie flohen aus ihrer Heimat, um dem Terror und der Brutalität der sowjetischen Besatzer zu entkommen.

Die Massendeportationen und Ermordungen von Esten während der ersten Besatzung durch das stalinistische Sowjetreich in den Jahren 1940/41 hatten bereits verdeutlicht, was den Esten blühte, wenn sie im Land blieben.

So nahm es wenig wunder, dass im August und September 1944 zehntausende Menschen jedes Schiff bestiegen, das sich über Wasser halten konnte, einschließlich kleiner Holzboote, um vor den heranrückenden Rotarmisten über die Ostsee zu fliehen. Segel wurden gesetzt, größere Ruderboote wurden mit umgebauten Automotoren ausgerüstet, die hoffentlich das Salzwasser vertrugen.

Es brauchte nicht viel dazu, um den Fluchtreflex vor der Sowjetunion mit seinem Kernland Russland auszulösen. Die stalinistischen Schergen waren für ihre Willkür bei Verschleppung, Folter und Ermordung bekannt. Ein unbedachtes Hochziehen einer Augenbraue konnte genügen, um sich verdächtig zu machen und so auf eine Liste zu kommen, die einem eine Freifahrt nach Sibirien garantierte.

Enns Vater, der Kapitän Oskar Meri, hatte jedoch einen handfesten Grund, vor den Russen zu fliehen. Er und seine ganze Familie waren in Gefahr, im besten Falle deportiert zu werden. Doch dazu kommen wir später.

Die Esten begannen bereits im Frühjahr 1943 mit der Flucht nach Schweden, aber der große Exodus begann im August 1944 und erreichte seinen Höhepunkt vom 19. bis 23. September 1944, als klar wurde, dass die deutsche Front zusammenbrach und die sowjetischen Streitkräfte Estland besetzten.

Die überwiegende Mehrheit der Esten wollte die Unabhängigkeit ihres Landes, folglich lehnte sie sowohl die deutsche als auch die sowjetische Besatzung ab. Doch während des Zweiten Weltkrieges wurde das Land zum Spielball zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion; ausgelöst durch den Hitler-Stalin-Pakt, der eine Neuordnung Mittel-, Ost- und Nordeuropas vorsah, bei der die beiden Großmächte ihre Einflusssphären untereinander aufteilten.

Während der kurzen ersten Besatzung Estlands durch Stalins Armee fügte diese der Bevölkerung mehr Leid zu als die Deutschen während ihrer Besatzung. Das erklärt auch, warum die Esten die einen mehr fürchteten als die anderen.

Die Sowjetunion hatte in einem Jahr der Okkupation über 10.000 Menschen nach Sibirien deportiert. Viele der ehemaligen Politiker, Minister, Richter, Geistliche, Unternehmer und Landbesitzer der Republik Estland wurden inhaftiert und hingerichtet. Privatbesitz und Unternehmen wurden beschlagnahmt. Der NKWD, die gefürchtete politische Geheimpolizei des Innenministeriums der UdSSR, der für seine willkürlichen Tötungen bekannt war, hatte zuletzt auch in Tartu ein Massaker angerichtet, bei dem 193 Inhaftierte umkamen.

Viele Menschen kamen auf der Flucht ums Leben. Schätzungen zur Folge überlebten 9 Prozent von ihnen nicht die Überfahrt übers Meer. Die stürmische See und der Beschuss durch Kriegsschiffe forderten ihre Opfer.

Die meisten, die ihre Flucht überlebten, flohen in das nahegelegene Schweden und nach Deutschland. Tausende befanden sich in deutschen Vertriebenenlagern, die für einige Jahre zu ihrem vorübergehenden Zuhause wurden.

In Deutschland waren 1945 etwa 200.000 Menschen aus dem Baltikum als Vertriebene gemeldet, 33.000 von ihnen Esten.

In den Alliierten-Sektoren Deutschlands, Österreichs und Italiens wurden hunderte Lager eingerichtet, um Flüchtlinge und Entwurzelte zu versorgen.

Der ursprüngliche Zweck der Vertriebenenlager bestand darin, die Menschen so schnell wie möglich in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Bis Ende 1945 gelang es den Militärverwaltungen, mehr als fünf Millionen Entwurzelte in ihre Heimatländer zurückzuführen.

Doch wie konnte man jene zurückführen, deren Länder nicht mehr existierten? Die Staaten des Baltikums waren besetzt, zudem hätte eine Rückkehr in die Heimat für viele Menschen Folter, Deportation und Tod bedeutet.

Estnische Kriegsflüchtlinge in Schweden

Bereits im Frühjahr 1943, während der deutschen Besatzung, begann die Flucht der Esten nach Schweden. Als erstes flohen die Estland-Schweden, etwa 7.000 von ihnen.

Die Gesamtzahl der Esten, die bis zum Herbst 1944 nach Schweden floh, wird auf rund 26.000 geschätzt. Doch viele Esten rannten weiter, ohne sich umzudrehen, – nach England, Nordamerika und Australien, zu groß die Angst davor, dass Schweden sie der UdSSR ausliefern könnte.

Ein solches Auslieferungsabkommen bestand bereits mit Finnland. Estnische Flüchtlinge, die nach ihrer Fahrt über die See endlich an Land gehen konnten, fragten immer zuerst die Einheimischen, ob sie in Finnland oder Schweden waren. Wer in Finnland landete, fuhr so schnell wie möglich wieder aufs Meer hinaus, Richtung Westen.

Zwischen 1949 und 1952 verließen etwa 5.000 Esten Schweden. Viele andere blieben, Schweden hatte in dieser Sache nie mit der Sowjetunion kooperiert.

Die Rettung

Am Morgen des 23. September liegen die Kinder zu ihrem Schutz auf dem Boden des Fischerbootes. Die Feuchtigkeit ist durch die Kleider gedrungen, es ist kalt. Enns Vater versucht alles, um den Motor wieder in Gang zu setzen.

Glücklicherweise springt er wieder an. Endlich erreichen sie das schwedische Hoheitsgebiet, wo ein Kriegsschiff ihnen entgegenkommt, ihre Boote in Schlepptau nimmt und sie zur Insel Dalarö bringt.

Estnische Flüchtlinge Zweiter Weltkrieg
Dieses Foto hat Enn Meri 1994 in einer exil-estnischen Zeitung in Stockholm entdeckt, als das Schwedische Armémuseum die Ausstellung „Vor 50 Jahren – die ersten Bootsflüchtinge“ zeigte. Auf dem Bild erkannte er seinen Vater, rechts mit grauem Hut. Seine Mutter erzählte Enn, dass sie hinter dem Vater saß, Enn und sein Bruder waren auf dem Boden des Bootes und sind deshalb nicht auf dem Foto zu sehen. Die Mutter, Linda Meri, überlieferte auch die Aussage des zweieinhalbjährigen Sohnes, die er tätigte, als die Lage aussichtslos schien. – Das Bild wurde von einem schwedischen Seemann aufgenommen, der an Bord des Schiffes gewesen ist, das die Fischerboote in Schlepptau genommen hatte. (Foto: privat)
Kurzzeitig wurde die Familie zusammen mit anderen Flüchtlingen in einer Schule untergebracht, danach ging es weiter in ein Flüchtlingslager in Lidingö im Stockholmer Schärengarten.

Nach weiteren drei Monaten war auch schon Frühling, die schwedische Landwirtschaft konnte Arbeitskräfte gut gebrauchen. Die Familie Meri wurde nach Südschweden gebracht, wo sie auf einem Bauernhof Arbeit bekam.

Die Meris machten harte Zeiten durch. Sowohl die Eltern als auch Kinder waren in ihrem Alltag Anfeindungen ausgesetzt – sie fingen mit Nichts an und dazu waren sie Fremde, damit waren sie auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter. Es gab so gut wie kein Sozialsystem, das wenigstens die materielle Not linderte, so waren sie vor allem auf sich selbst angewiesen.

„Entweder du hilfst dir selbst oder du gehst unter“, erinnert sich Enn Meri, der heute 77 ist.

Die Familie biss sich durch, arbeitete hart und integrierte sich schnell. Auch in anderen Ländern passten sich die Esten an und trugen bald, von Australien bis Deutschland und Kanada, ihren Teil zum Weiterkommen der neuen Heimatländer bei.

Die Rückkehr

Obwohl die Esten sich schnell integrierten, vergaßen sie nie, wo sie herkamen. Sie gründeten estnische Kulturvereine, wo sie ihre Sprache und Traditionen pflegten und an ihre Kinder und Enkel weitergaben. Zu diesem Zweck betrieben sie auch eigene Schulen in Deutschland, Schweden, Kanada, USA und Australien.

Vom Ausland aus wirkten sie, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, für die Unabhängigkeit Estlands. Zumindest wollten sie das Land im östlichen Winkel der Ostsee, von wo aus diese „Westsee“ genannt wird, von der Weltöffentlichkeit nicht vergessen wissen.

Während der Weltausstellung 1967 in Montreal protestierten die Exil-Esten vor dem Pavillon der Sowjetunion.

Am 21. Mai 1967 gab es im sowjetischen Pavillon einen Tag, der speziell der Estnischen SSR gewidmet war. Viele Exil-Esten organisierten ein Protesttreffen. Sie versammelten sich vor dem Pavillon, sangen estnische Volkslieder, vollführten Turnübungen und tanzten Volkstänze.

Der Konsul der Republik Estland in Kanada, Johannes Ernst Markus, schrieb im Faltblatt zu dieser Protestveranstaltung: „Mögen die Aufführungen die unablässige Forderung der Esten nach Freiheit für ihr Heimatland, Estland, derzeit unter der illegalen Besatzung der Sowjetunion, demonstrieren, und den Blick der Freien Welt auf die absolute Hoffnung der Esten in Kanada lenken – eine freie, unabhängige und demokratische Republik Estland.“

Seitdem vergingen weitere zweieinhalb Jahrzehnte, bis Estland schließlich seine Unabhängigkeit im Jahre 1991 wiederherstellen konnte. Viele der Auslands-Esten der ersten, zweiten und dritten Generation kehrten entweder sofort oder nach und nach zurück.

Enn Meri war früh zur Stelle, gemeinsam mit seiner Mutter kehrte er ’91 nach Saaremaa zurück. Dort wirkte er mit seiner Erfahrung und Ausbildung am Aufbau einer freien estnischen Gesellschaft mit.

Der studierte Finanz- und Wirtschaftsfachmann und Unternehmer verkaufte seine Firma in Schweden, ging zurück zum Ort seiner Geburt, und gründete dort eine Fabrik, in der er Gummidichtungen für Autoklimaanlagen herstellen ließ. Das Werk lief so gut, dass es innerhalb weniger Jahre zum größten Arbeitgeber auf der Insel avancierte.

Enn Meri engagiert sich bis heute in der Gemeinde, tritt als Förderer lokaler Kulturveranstaltungen auf, war jahrelang ehrenamtlicher Präsident der Deutsch-Baltischen Handelskammer in Estland und einige Zeitlang als Mitglied des estnischen Parlaments in der nationalen Politik aktiv.

Der Bruder, Mati Meri, 1943 geboren, lebt heute als Rentner in Halmstad, Schweden. Er hat dort als Programmierer und Lehrer gearbeitet.

Die Mutter, Linda Meri, Jahrgang 1916, betrieb in Schweden einen kleinen Laden, bis sie in Rente ging. Mit 75 Jahren kehrte sie zurück nach Saaremaa. Sie verstarb im hohen Alter von fast 102 Jahren in ihrer estnischen Heimat.

Enns Vater, Oskar Meri, Navigator des voranfahrenden Bootes, und damit der gesamten Gruppe an Flüchtlingsbooten, ebenfalls 1916 geboren, floh vor den Sowjets, weil er um die Sicherheit seiner ganzen Familie fürchtete.

Nach seinem Studium der Nautik und der Fortbildung zum Kapitän zur See war er in Zeiten des Krieges mit seinen Fähigkeiten ein gefragter Mann. Als junger Kapitän von 25 Jahren wurde Oskar Meri 1941, während der ersten Besetzung Estlands durch die Russen, zwangsrekrutiert.

Seine Aufgabe war es, ein kleines Transportschiff, mit russischer Wachmannschaft an Bord, zu befehligen, das Personen von Estland nach Russland deportierte.

Zusammen mit seiner Schiffsmannschaft gelang es Oskar Meri, die Wachleute zu überwältigen und zu entwaffnen. Er fuhr das Schiff anschließend auf Grund, damit die Gefangenen an Land gehen konnten, sie waren frei. – Während der deutschen Besatzungszeit arbeitete er als Polizist bei der estnischen Polizei.

Es war klar, sobald die Russen zurückkehrten, gab es genügend Gründe, um seine Familie nach Sibirien zu verschleppen und ihn, den Familienvater, standrechtlich zu erschießen.

Oskar Meri starb 1955 vor der Küste Englands bei einem großen Schiffsbrand, einem Tankerunglück. Seine und andere Familien haben ihm viel zu verdanken.

Jedes Jahr im Herbst gedenkt Estland der traumatischen Erfahrung ihrer Okkupation im Zweiten Weltkrieg, der Verschleppung, Ermordung und der Massenflucht seiner Landsleute. Ausstellungen, Konzerte und Gedenkfeiern halten die Erinnerung an die einschneidende Erschütterung eines kleinen Volkes hoch, das im Laufe seiner Geschichte schon oft vor der totalen Zerreibung zwischen mächtigen Mühlsteinen der Politik stand, und doch jedes Mal überlebte.

ap

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