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Fahrradtour wie 1897 – Teil 1

Die Entdeckung Estlands mit dem Fahrrad

Unser Autor, Jens Bemme, hat sich entschlossen, die Aktualität des Radtourenbuches von Estland aus dem Jahre 1897 einer praktischen Prüfung zu unterziehen. Mit seinem Fahrrad fuhr er alte Strecken ab, suchte nach Bierbuden von damals und landete am Ende seiner Reise in Lettland. Hier ist Teil 1 seines Abenteuers.

Ich fand Estland 2014 in der Nationalbibliothek. Eine Exotik Estlands – gibt es die? Das Tourenbuch von Estland für Radfahrer war sicher kein must have, eher ein Gelegenheitskauf. Aber ein starker Reiz des Unbekannten war dabei.

Über Estland wusste ich noch nichts. Ich suchte alte Tourenbücher, um sie digitalisieren zu lassen. Wie üblich lieferte EOD ein PDF. Dieses nun kam aus Tallinn und enthielt ungewöhnlich viele Tabellen, in denen die Details der Radtouren beschrieben waren. Diese Touren ließ ich anfangs links liegen – bis auf den Begriff „Bierb.“ (Bierbude?), der im Abkürzungsverzeichnis nicht erklärt war.

Der gigantische Anzeigenteil am Ende beeindruckte, denn er zeugt noch von der Wirtschaftskraft der damaligen Ostseeprovinzen. Die Idee vor vier Jahren: Man müsste die alten estnischen Bierbars und Dorfkrüge suchen, um dort – wenn heute noch ein paar existieren – ein Bier zu trinken.

Die große Überfahrt

Reisebericht Fähre Helsinki Tallinn
Letzter Blick auf Helsinki, auf nach Tallinn. (Foto Jens Bemme)

Von der Anreise ist schnell erzählt. Der Reiseführer erwähnt noch eine Fährverbindung vom lettischen Liepaja zur Insel Saaremaa. Diese Option erschien auf den ersten Blick reizvoll, um Estland von Westen zu erobern. Doch eine schnelle Suche in Internetforen offenbart: die einst aktualisierte Neuauflage meines inzwischen veralteten Reiseführers war schon bei Drucklegung an dieser Stelle nicht mehr frisch. Die Fährverbindung existiert schon länger nicht mehr. Berichtet wird 2017 über politische Gespräche der Orte beider Häfen und die Hoffnungen auf EU-Hilfe, um die Verbindung neu zu beleben.

Die große Überfahrt: Finnlines bringt mein Fahrrad nach Helsinki. Es gibt Elch unterwegs und die vier Tischnachbarn aus Dresden blättern auf ihrer Fahrt nach Finnland in meinem Tourenbuch von Estland. Nebeneffekt der Reise: Dabei finden wir bis dahin eine unentdeckte Anzeige von Gustav Bauer, einem Dresdner Illustrator historischer Radfahrerbücher.

Vom Hafen am Rande der finnischen Hauptstadt zum Fährhafen im Zentrum führen die Radwege meist durch Wohnviertel, vorbei an Gewerbe- und Einkaufszentren – immer entlang der Stadtbahn und größerer Straßen. Stadtpläne an Bushaltestellen helfen. Hängen bleibt ein bestimmender Eindruck: Helsinki wurde in den Wald gebaut. Und eine Frage: Werden in Helsinki Teppiche traditionell auf extra angelegten Stegen am Wasser gereinigt? Es hingen vielerorts Teppiche zum Trocknen. – Die kleine Überfahrt nach Tallinn dauert nur zwei Stunden.

Tallinn (Reval)

Ausblick Tallinn Reisebericht
Ausblick über die Dächer von Tallinn. (Foto Jens Bemme)

In der Hochsaison kommt schnell mit Einheimischen in Kontakt wer in europäischen Hauptstädten persönlich nach einer Unterkunft sucht. Mariann treffe ich an der Rezeption eines Hostels der Altstadt gleich an der Stadtmauer Tallinns. Das Haus ist schon voll belegt. Wir sprechen übers Reisen.

Ich solle unbedingt nach Viljandi fahren! Es sei sehr schön. Sie komme von dort. Den Krug „Pahhajänes“ – eine der Stationen in der Tour von Weissenstein nach Fellin, Seite 91 im Tourenbuch von Estland – würde im Estnischen eigentlich getrennt „Paha jänes“ geschrieben. Übersetzt: „bad rabbitt“. – Heimatkunde auf Englisch mit einer ortskundigen Estin auf Basis eines deutschen Tourenbuchs von 1897, ein gelungener Auftakt. Und ein Mehrbettzimmer findet sich noch andernorts, unter Umgehung aller Buchungsportale.

Ein Abend in der Altstadt ist zu wenig, für Tallinn sowieso: weltläufig ist das enge Botschaftsviertel auf der Burg samt Parlamentsshop, Lädchen, Restaurants – und mit Ausblick. Die Fenster ins benachbarte Museum für Puppenkunst locken zu einem nächsten Besuch.

Dienstagabend ist das Museum schon geschlossen und der nächste Morgen beginnt viel früher als die Öffnungszeiten. Das wird hier öfter passieren. Was in Tallinn noch auffällt: Die Zahl und Vielfalt der Restaurants aller Spielarten ist groß in der Altstadt – international, vegan & Co.

Ich verlasse Reval am nächsten Morgen nach Westen durch alte Hafenviertel, Seebäder und neuere Ferienhausanlagen. Wann Tallinn endet und wo diese Wochenendsiedlungen und die Bootshäfen der Hauptstadt beginnen, ist nicht eindeutig zu erkennen.

Details der beginnenden Tour sind nicht geplant. Das Tourenbuch von Estland ist zwar ein guter Anlass für eine Radreise. Streng will ich das Buch aber nicht befolgen. Seit wir vor vier Jahren im lettischen Ance eine kleine Schüssel aus Vaidava kauften, nutze ich diese jeden Morgen. Dort, im Norden Lettlands, gibt es eine Töpferei. Sie heißt Vaidava, wie der kleine Ferienort. Das Ziel der Reise ist also nicht das Jahr 1897, sondern ein neues Stück der jüngeren Designgeschichte: eine zweite Müslischüssel aus Lettland.

Ob Tallinn und Helsinki auf der Rückfahrt wieder am Weg liegen, ist zu Beginn dieser Reise noch nicht entschieden; aber wahrscheinlich ist es nicht: Schiffe nach Travemünde gehen inzwischen von Liepaja im Osten Lettlands, statt von Ventspils vor vier Jahren. Riga hat Anziehungskraft, einerseits.

Doch: Könnte ich Riga südlich umfahren, wenn „Großstadt“ nicht zur Stimmung passt?
Aber: Lettische Schotterstraßen bremsen das Reisetempo; zur Not gibt’s noch die Bahn.
Zusammengefasst: Das Tourenbuch von Estland ist meine Reisebegleitung.
Der Rest wird sich zeigen.

Siehe auch:

Text und Fotos von Jens Bemme

Über den Autor
Jens Bemme aus Dresden forscht und twittert zu historischem Radfahrerwissen um 1900. Er studierte Verkehrswirtschaft und arbeitet im Bereich Landeskunde und Citizen Science der SLUB Dresden. Das Tourenbuch von Estland führte ihn im Sommer 2018 mit Umwegen von Tallinn nach Riga. // twitter.com/jeb_140 // jensbemme.de

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